
Jedes fünfte Kind lebt in Österreich in einem armutsgefährdeten Haushalt. 100.000 Kinder sind von akuter Armut betroffen. Prekäre Verhältnisse weisen einige Nebeneffekte auf. Die Gesundheit der Kinder leidet im Vergleich mit Gleichaltrigen immens und sie schließen statistisch gesehen geringere Bildungsabschlüsse ab. Hat Österreichs Sozialstaat versagt?
Eine ausreichend geheizte Wohnung, Rechnungen bezahlen können und jeden zweiten Tag eine Hauptspeise aus Fleisch oder vegetarischen Alternativen: All das können sich knapp 1,6 Millionen Österreicher:innen – darunter 376.000 Kinder – nicht leisten. 221.000 dieser Kinder wohnen zudem in feuchten, von Schimmel befallenen Wohnungen, die einige gesundheitliche Risiken nach sich ziehen.
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Per Definition ist eine Person arm, wenn sie lediglich 60 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens verdient. Für einen Einpersonenhaushalt in Österreich bedeutet, das: Wer monatlich weniger als 1.392 Euro netto verdient, liegt unter der (Stand 2023). Laut der EU-SILC-Studie leben 17,7 Prozent der österreichischen Bevölkerung – 1,6 Millionen Menschen – an oder unter dieser Grenze.
Armutsbetroffene Kinder – häufiger krank, depressiv und übergewichtig
Kinder aus sozial schwachen Haushalten haben ein höheres Risiko krank zu werden. Das liegt nicht nur an unhygenischen Wohnsituationen, sondern auch an Ungleichheiten im Österreichischen Gesundheitssystem. Auch wenn sozialversicherte Menschen eine gute medizinische Grundversorgung erhalten, Familien, die vom Mindetsen leben, können Zahnbehandlungen, Selbstbehalte bei Therapieangeboten oder nicht verschreibungspflichte Medikamente nicht ohne Hilfsangebote stemmen. Nach einer Umfrage der “Ärztekammer” gemeinsam mit der “Volkshilfe” hat ergeben, dass mehr als 80 % der Ärzte aussagen, häufiger Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten zu behandeln. Die Ursache dafür ist ein psychosomatisches Krankheitsbild, welches durch die unbeheizte Wohnung, die existeniellen Ängste und das Mobbing von Gleichaltrigen ausgelöst wird. Die häufigsten Symptome äußern sich in Bauch- und Kopfschmerzen, Schlafstörungen, verminderte Konzentrationsfähigkeit, Bettnässen und Depressionen.
Gleichzeitig leiden viele armutsgefährdete Kinder an Adipositas. Die Lebensmittelpreise sind in den letzten Jahren rasant gestiegen. Die Arbeiterkammer hat von Semptember 2021 auf Dezember 2022 eine Preissteigerung von 41 % auf günstige Artikel festgestellt. Dadurch, dass prekäre Haushalte durchschnittlich 16 % ihrer gesamten Mittel ausgeben müssen, um Lebensmittel zu besorgen, können sich kaum armutsbetroffene Familien eine ausgewogene, gesunde Ernährung leisten. Das bestätigt auch Bianca Korn, Leiterin der Kinderfreunde im zehnten Wiener Gemeindebezirk Favoriten:”Äpfel und Bananen kennen sie schon gut. Wir bieten viel Obst und Gemüse an. Bei Sachen, die mehr kosten wie Radieschen, Beeren und Melonen stürzen sie sich immer darauf. Es bleibt schon oft der Eindruck, dass sie das nicht so oder nur selten kennen, weil es etwas ganz Spezielles für sie ist und ihnen schwer fällt (mit den anderen Kindern) zu teilen.” Außerdem zeigt das Robert-Koch-Institut auf, dass Kinder aus prekären Haushalten in einem wesentlich geringerem Ausmaß an Vereinsport teilnehmen können. Der Jahresbeitrag für den Fußballverein können sich viele Eltern nicht leisten sowie die Mobilitätskosten für mögliche Auswärtsspiele. Dabei ist von wirklich teuren Sportarten wie Tennis noch gar nicht die Rede. Die kostenfreie Variante durch Schulsport liegt weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Insbesondere durch Teamsport können soziale Kontakte geknüpft, motorische Fähigkeiten gelernt und Geduld geübt werden. Würde Österreichs Bildungssystem Schulsport mehr fördern, könnten sportliche Fähigkeiten demokratisierter unter Kindern erworben werden.
Ein Bildungssystem, das Ungleichheit fördert
Martin Schenk, Psychologe und Sozialexperte, skizziert im Interview das heutige Bildungssystem in Österreich und Deutschland als “bismarck’sches Modell”, welches auf den Reichskanzler Otto von Bismarck zurückzuführen ist. Damals musste Bismarck der stärker werdenden Arbeiterbewegung, Zugeständnisse bieten. Ein stabiler Sozialstaat wurde gegründet, der die Arbeiterklasse vor Armut schützen soll, ein gutes Gesundheitssystem etabliert und geringe Arbeitslosigkeit zulässt. Die Schulen wurden für alle Bevölkerungsschichten geöffnet, aber zwischen den sozialen Ständen stark selektiert. Unter den OECD-Ländern bleiben Österreich und Deutschland die einzigen Vertreter, die die erste Bildungstrennung im Alter von zehn Jahren vornehmen. Schenk führt weiter aus: “Jeder sollte bleiben, wo er sei. Bismarck wollte nicht, dass Leute aufsteigen, sondern dass jeder in seinen Ständen bleibt, aber halt gut abgesichert ist. Das ist natürlich mit vielen historischen Änderungen verbunden, aber das System atmet noch immer diesen Geist.”
Jene Tendenzen lassen sich noch heute in Österreichs Bildungssystem identifizieren. Die Studie “Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Zum Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Migration und Bildungsaspirationen” der Universität Wien zeigt auf, dass die Diskrepanz zwischen der Wunschvorstellung und den realen Abschlüssen armutsgefährdeter Kinde höher liegt als bei Kindern aus wohlhabenden Haushalten.
Die Umfrage, an der ein Großteil der Wiener Neuen Mittelschulen teilgenommen haben, ergibt, dass armutgefährdete Kinder aus der 1. Migrationsgeneration eine höhere Motivation aufweisen, die Schullaufbahn mit einem hohen Bildungsgrad abzuschließen, als Gleichaltrige Kinder ohne Migrationshintergrund mit ähnlicher sozioökonomscher Herkunft. Dadurch, dass alltägliche Hürden wie Sprachbarrieren
durch Österreichs Bildungssystem nicht aufgehoben werden, scheiden migrantische Kinder im Schnitt mit schlechterem Schulabschluss aus.
Ähnliche Ergebnisse zeigt die Studie der Statistik Austria. Demnach besuchen 76 % aller Jugendlichen aus gut situierten Haushalten später einmal ein Gymnasium und 26 % studieren. Wohingegen lediglich 27 % aus armutsgefährdeten Familien in einer AHS-Unterstufe aufgenommen werden und nur 8 % ein Studium absolvieren.
Pläne für die Zukunft
Ich habe bemerkt, dass die Mutter sich beim Abholen immer Zeit genommen hat und fragte, ob sie sich die Bücher ausleihen dürfe, weil es ein feiner Weg ist kostenlos Deutsch mit ihrem Kind zu lernen.
Initiativen für armutsgefährdete Kinder werden im Regierungsprogramm unter ÖVP, SPÖ und NEOS aber kaum genannt, obwohl die Bekämpfung von Armut ebenfalls einen langfristigen, volkswirtschaftlichen Effekt hätte. Dadurch, dass soziale Benachteiligung bekämpft und in Chancengleichheit ab dem Kindergarten investiert wird, kann nach einer vom Sozialministerium beauftragten Studie die Erwerbstätigkeit und Gesundheit im Erwachsenenalter verbessert werden, womit jährlich Staatskosten in der Höhe von 17,2 Milliarden Euro gespart werden könnten.
Dieses Ziel ist nicht unmöglich zu erreichen, da einerseits der Staat im Jahr 2021 lediglich 0,5 % des BIPs in frühkindliche Bildung investiert hat und andererseits Institutionen wie die “Volkshilfe”, Konzepte wie die Kindergrundsicherung evaluiert haben. Demnach sollen Kinder einen monatlichen Grundbetrag von 625 Euro erhalten. Je nach Einkommensklasse der Eltern erhält die Familie pro Kind weitere maximal 425 Euro, wobei der Familienbeihilfengrundbetrag weiterhin ausgezahlt wird. Die “Volkshilfe” hat dabei Nettokosten in der Höhe von knapp zwei Milliarden pro Jahr berechnet, somit ein Bruchteil der Kosten, die jährlich durch Kinderarmut entstehen.
Natürlich müssen essenzielle Veränderungen in der Armutsbekämpfung und zur Förderung von Chancengleichheit umgesetzt werden und die Rahmenbedingungen kritisch beäugt werden, in denen Pädagog:innen tagtäglich arbeiten müssen.
Doch es gibt nicht nur negatives. Im Interview mit Astrid Jelencsits, die Leiterin des Pfarrkindergartens St. Johann Evangelist der St. Nikolausstiftung von ihren positivsten Eindrücken als Pädagogin geschildert:” Damals habe ich als Sprachförderkraft eine syrische Familie begleitet. Ich habe bemerkt, dass die Mutter sich beim Abholen immer Zeit genommen hat und fragte, ob sie sich die Bücher ausleihen dürfe, weil es ein feiner Weg ist kostenlos Deutsch mit ihrem Kind zu lernen. Ich habe ihr dann angeboten, dass sie mitfahren kann, wenn ich welche für den Kindergarten besorge und tatsächlich hat sie dann auch noch zwei Freundinnen mitgenommen.”
Quellen:
https://www.kfv.at/wp-content/uploads/2024/06/PA_KFV_Schwimmstudie_2024.pdf
file:///Users/julian/Downloads/Astleithner2021_Article_ZwischenWunschUndWirklichkeitZ.pdf
https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/581/1047
https://www.wko.at/sbg/handel/regierungsprogramm.pdf
https://www.derstandard.at/story/3000000234762/eine-gemeinsame-schule-fuer-alle-kinder
https://www.statistik.at/fileadmin/pages/338/Statistics_Brief_Teilhabechancen.pdf