Zen statt Zehn Gebote

Warum immer mehr Menschen Antworten in der Spiritualität suchen

von Emma Darda

Sinn, Lösungen, Erklärungen – das hat der Mensch gern. In einer zunehmend komplexen Welt wenden sich immer mehr Menschen von traditionellen Religionen ab. Gleichzeitig erlebt moderne Spiritualität einen Aufschwung. Der alternative Glaube birgt allerdings die Gefahr von Missbrauch, wie jüngst ein Skandal um eine Schamanin gezeigt hat.

Die selbsternannte Schamanin „Amela“ verlangte für ein „Reinigungsritual“ mehrere tausend Euro von ihren Opfern, nachdem sie ihnen den Tod von Angehörigen vorhergesagt hatte. Nach Erhalt des Geldes konnte sie untertauchen und wird noch gesucht. Nach mehreren solcher Skandale, warnt die österreichische Polizei in einem Bericht davor, wie die „finanziellen und emotionalen Notlagen“ mit esoterischen Maschen ausgenutzt werden.

Astrologie: Die Sterne und ihre Schatten

Doch wie ist der Esoterik-Boom zu erklären?

„Die heutige Zeit ist für viele unüberschaubar und unverständlich“, sagt Zukunftsforscher Andreas Krafft .

Sie biete vermeintliche Erklärungen und Kontrolle. Moderne Spiritualität „sucht die Autorität in sich selbst“, statt wie in den meisten konservativen Religionen eine institutionelle Autorität vorzugeben. Durch die wachsende Ablehnung gegenüber konservativen Religionen sei ein „Vakuum“ entstanden, so Krafft. Trends wie Astrologie, Meditation und Schamanismus würden diese Lücke füllen. Das Hashtag „astrology“ hat auf TikTok 51 Milliarden Aufrufe. Auf Datingplattformen wie Tinder kann man in der Sektion „Glaube“ auch „spiritual“ angeben. Laut des deutschen Statistischen Bundesamts bezeichnet sich fast ein Drittel der konfessionslosen Personen inzwischen als spirituell.

„Spiris“ (spirituelle Personen) teilen häufig ihre Kunst in den sozialen Medien (Quelle:pinterest)

Tanja Ragitsch, ausgebildete Astrologin mit Praxis in Wien, bestätigt den Trend. „Es kommen immer mehr junge Menschen zu mir mit der Frage, was ihre Berufung ist, was sie können, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.“ Horoskope treffen laut ihr und der AstroAkademie Wien keine festen Vorhersagen, sondern zeigten „Potenziale“. Zwar sei in der Astrologie nichts wissenschaftlich belegbar, wie auch Ragitsch zugibt, doch die Kunst habe sich über Jahrhunderte gehalten und so bewährt. Wenn Astrolog:innen jedoch konkrete Zukunftsversprechen machen, sollte man diese hinterfragen, bestätigt sie.

Wem dient es, spirituell zu sein?

Esoterik bedeutet übersetzt aus dem Altgriechischen lediglich „innerlich“. Viele Praktiken lassen sich auch vollkommen allein ausführen, so auch die Meditation – also die gezielte Lenkung und Betrachtung der eigenen Aufmerksamkeit und Gedanken. Sozialarbeiter und Pfleger Adrian Dorille beschäftigt sich seit fünf Jahren privat und im Beruf damit. Im Interview spricht er davon, der „Beobachter des eigenen Innenlebens“ zu werden und den Körper spüren zu lernen. Dorille beschreibt es als natürliche Bewusstseinserweiterung. Von der daraus resultierenden Dankbarkeit, Präsenz, Achtsamkeit und Akzeptanz profitierten er und seine Mitmenschen. Der positive Effekt auf Körper und Psyche ist inzwischen auch medizinisch bewiesen (vgl. Die Zeit, 2011) und wird bereits in vielen Therapieformen verwendet.  

Es sei vergleichbar mit der Atemmaske im Flugzeug, die man sich erst selbst aufsetzt, um dann anderen zu helfen, sagt Dorille.

Vor und nach der Mediation werden die eigenen Gedanken meist verschriftlicht.           (Quelle: Emma Darda)

Unterscheidungspunkt zu vielen Religionen ist bei all diesen Trends die Zugänglichkeit und freie Auslegung. Dorille meint es gebe eher Hilfestellungen für „den Spielplatz Innenleben“ statt konkretes Regelwerk. Die Praktik ist für jeden und jede ohne Erfüllungszwang.

Einige Sozialforscher:innen kritisieren jedoch: „Wir sehen in den sozialen Medien einen Trend hin zu einer sehr individualisierten Form von esoterischen Praktiken.“ Es gehe um die Frage, was der eigenen „Psychohygiene“ diene. Das wiederum biete Fläche für Manipulation (vgl. Jetter, rbb24, 2023).

Meditation kann auch in der Gruppe praktiziert werden und wird oftmals für Teambuildings verwendet (Quelle: Emma Darda)

Das Geschäft mit den Gefühlen

Einen Missbrauchsskandal deckte die Wiener Zeitung kürzlich auf: Ein Meditationszentrum in Wien warb mit kostenlosen Klassen, deren Inhalt aber vielmehr den Zugang zu einem sektenähnlichen „divine enterprise“ (göttliches Unternehmen) darstellte. Die Wiener Zeitung sprach mit Aussteiger:innen des Kults, welche von „Gedankenkontrolle“ durch den Guru sprachen. Dieser stellte nicht nur strenge Verhaltensregeln auf, sondern verlangte sogenannte „love offers“, also Geldspenden.

Spiritualität ist auch Dienstleistung.

Möchte man seine Spiritualität nach Anleitung leben, gibt es dafür inzwischen einen großen Markt. Eine Sitzung bei Tanja Ragitsch kostet bis zu 150 Euro. Für Meditationsklassen in Wien zahlt man ab 22 Euro aufwärts. Kostenlose Kurse findet man auch, jedoch sind diese teils an Institutionen oder Glaubensrichtungen gebunden. Schätzungsweise werden allein in Österreich jährlich 5 Milliarden Euro, in Deutschland rund 20 Milliarden Euro in der gesamten Spiritualitätsbranche umgesetzt. Mit kaum rechtlichen Grundlagen ist die Seriosität von Angeboten jedoch kaum festzustellen. Die Grenzen zwischen Hilfe und Geschäft auf dem spirituellen Markt sind fließend.

Astrologin Ragitsch setzt sich daher seit Jahren bei der Stadt Wien dafür ein, dass ein gesetzlicher Rahmen für Astrolog:innen geschaffen wird. Wie konkrete Regeln aussehen könnten, ist noch unklar.

Wer einen Betrugsverdacht hat, kann sich an die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, die Bundesstelle für Sektenfragen oder direkt an die Polizei wenden. Spirituelle Praktiken können hilfreiche Tools und interessante Hobbies sein, sollten aber nicht als absolute Wahrheit oder Allheilmittel gesehen werden.

Quellen:

Interview mit Astrologin Tanja Ragitsch und Adrian Dorille

https://noe.orf.at/stories/3301273

https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=7757312B3574385A6B33673D

https://sound.orf.at/collection/2085/46254/andreas-krafft-unsere-hoffnungen-unsere-angste-unsere-zukunft

https://www.derstandard.at/story/2000114766248/moderne-spiritualitaet-auf-dem-weg-zum-besten-ich

https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2023/06/esoterik-hype-soziale-medien-betrug-probleme-psyche.html

https://www.blick.ch/gesellschaft/esoterik-boom-in-der-schweiz-astrologie-tarot-und-meditation-sind-hip-id20499125.html

https://www.brigitte.de/liebe/persoenlichkeit/neue-spiritualitaet–so-funktioniert-der-trend-12797400.html

https://ulb-dok.uibk.ac.at/ulbtirolhs/download/pdf/5446603

https://www.swr.de/swrkultur/wissen/jung-spirituell-online-sinnsuche-auf-social-media-104.html

https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/extra_3/Milliardenmarkt-Esoterik-Glaube-versetzt-Geldberge,extra21622.html#:~:text=Die%20Branche%20setzt%20in%20Deutschland,hat%20Bier%20hat%20eine%20Wirkung.

https://www.destatis.de/DE/Home/_inhalt.html

https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/extra_3/Milliardenmarkt-Esoterik-Glaube-versetzt-Geldberge,extra21622.html

https://www.wienerzeitung.at/a/das-millionengeschaeft-hinter-dem-laechelnden-guru

https://bundesstelle-sektenfragen.at/

https://www.ezw-berlin.de

https://www.astrologie-ausbildung-wien.at/

https://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/01/Meditation-auf-Rezept/seite-2

Bild 1: https://pin.it/3cjMwW07B

Bild 2,3: Emma Darda, selbst fotografiert